der schwierige Aufbruch aus einem statischen Gebilde hinein in eine Dynamik
Der historische Hintergrund
Als sich die Kirche nach langem Schlafen endlich angemessen der sozialen Frage zuwandte, waren ihr schon weite Teile der Bevölkerung entfremdet worden. Die Arbeiterschaft hing angesichts der ungebremsten Brutalität eines absolut liberalen Kapitalismus zu Beginn der industriellen Revolution verständlicherweise sozialistischen und kommunistischen Ideen an und bildete sich zu einem dritten Milieu neben dem katholischen und protestantischen heraus.
Das katholische Milieu hielt vor allem durch die Homogenität der sozialen Schichtung und den inneren Druck einer uniformen Lehre und den äußeren durch den protestantischen Staat zusammen, der seinerseits im Kontext eines zunehmend kämpferischen Atheismus im Gefolge der Aufklärung und vor allem der französischen Revolution Europa spätestens im Gefolge der Napoleonischen Kriege zwangsbeglückte. Unmittelbarer materieller Auslöser der Verelendung der Massen waren, zumindest in Deutschland, die Napoleonischen Kriege und die damit verbundene Enteignung der Klöster.
Die soziale Frage wird bewusst
Mit diesem Raub fiel die materielle Basis der Alten- und Krankenversorgung weg, die bisher die Klöster geleistet hatten. Hier spielten natürlich noch andere Faktoren eine große Rolle, auf die ich hier nicht eingehen will. Es war dies auch die Zeit der großen Hungersnöte und Auswandererwellen nach Nordamerika. Als Effekt jedenfalls strömten Heere billiger Arbeitskräfte in die Städte, die meist unter übelsten Bedingungen ausgebeutet wurden, damit eine kleine, männliche Oberschicht in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit leben konnte. Es entstand mit den Arbeitern ein neues Milieu, in dem die Kirche eigentlich nicht mehr vorkam. Sie hat es die ersten Jahrzehnte schlichtweg verschlafen, diese Gruppe von Menschen wahrzunehmen. In dieser Zeit der Verelendung der Massen nach dem Reichsdeputationshauptschluss (1803/6) ist dann auch die Kirchensteuer entstanden, weil man natürlich der Kirche die geraubten Güter nicht wiedergeben, ihre Handlungsfähigkeit aber wiederherstellen wollte.
Das Beispiel Adolph Kolping
Damals begannen die ersten Priester und Ordensleute mit etwas, was eigentlich normal sein sollte für Geistliche, was aber leider aufgrund der Tatsache, dass wir alle Kinder unserer Zeit und Herkunft bleiben, erheblich erschwert wird. Einige begannen in der 2. Bibel zu lesen, die sie umgab, der Wirklichkeit. Ich möchte bei einem Beispiel bleiben, Adolph Kolping. Er sah das Elend der wandernden Gesellen wohl auch deshalb in der nötigen Schärfe, weil selber betroffen war. Bevor er Priester geworden war, hatte ihn als Schuhmachergeselle ebenfalls persönlich die Not betroffen, die auf der Walz allgegenwärtig war. Als er dann als Priester in Wuppertal (Elberfeld) auf dieselbe materielle und geistliche Not stieß, und er zweiter Präses eines Gesellenverein wurde, der wandernde Gesellen auf der Wanderschaft unterstützte, wurde ihm die Bedeutung dieser Idee klar, die er dann als Domvikar in Köln massiv auszubreiten begann. So wie Kolping, reagierten in der Kirche damals viele Männer und Frauen. Es gab förmlich eine Explosion von Gemeinschaftsgründungen, die irgend einen Aspekt der sozialen Not ihrer Zeit in den Blick genommen haben. Das ist der Punkt mit dem das praktisch etwas seinen Anfang nahm, was zu einem Prinzip der katholischen Soziallehre werden sollte: das Subsidiaritätsprinzip. An der Basis wurde eine Not wahrgenommen, der man auch lokal begegnete, die dann aber später überregional vernetzt wurde, um – auch an der Basis – effektiver zu werden.
liberaler Kapitalismus
Der Mensch wird zum bloßen Mittel einer Profitmaximierung
In der mittelalterlichen Theologie spielte ein Begriff eine bedeutende Rolle. Das “Gemeinwohl” oder auch lateinisch “bonum commune” beschreibt eine Balance, in der der Einzelne, die Familien und die Gruppierungen im Gemeinwesen ihre eigenen Werte und Ziele angemessen verwirklichen können. Dies war in mittelalterlichem ständischen Denken ausbuchstabiert eine relativ statische Sache, die zwar eine relative Sicherheit und Gerechtigkeit der Gesellschaft sicherte, aber nicht mehr so recht in die in Fluss geratene Welt der industriellen Zeit passte, denn die Antworten, wie eine gerechte Gesellschaft erreicht werden könnte, liefen angesichts der ausbeuterischen Strukturen des liberalen Industriezeitalters ins Leere. Stand im Mittelalter, zumindest noch vom theoretischen Anspruch her, der Mensch in seinem sozialen Gefüge im Zentrum der Wirtschaft, wechselte dieses Paradigma mit der industriellen Revolution hin zur Frage: wie kann ich meine Profite maximieren. Bei diesem Paradigmenwechsel wird der Mensch vom Ziel der Wirtschaft zu einem bloßen Kostenfaktor. Die Herrschaft des Geldes hatte begonnen.
Was ist die Soziallehre
Mit der Soziallehre nun wollen die Päpste das “Gemeinwohl” als Zentrum der sozialen Verkündigung im Blick behalten. Doch anders als in früheren Zeiten begann man nun nach Prinzipien Ausschau zu halten, die vielleicht schon funktionierten und die statischen Modelle der Vergangenheit ablösen konnten.
In dieser Situation fiel ihr Blick auf Bischof Kettler und Adolf Kolping und andere, die dieses Neuland schon unter den Pflug (Jer 4,3) genommen hatten. Aus dem genauen Hinschauen und Reflektieren gewann man dann die Prinzipien der katholischen Soziallehre, die bis heute ihren Kern bilden und nun helfen sollen, das “Gemeinwohl” zu fördern.
Die Prinzipien der Soziallehre
Personalität: der Mensch steht im Mittelpunkt der Wirtschaft. Oder etwas wissenschaftlicher ausgedrückt: Das Individuum hat als Individuum Rechte und Pflichten in ökonomischer und ethischer Hinsicht. Es muss seine Ziele angemessen im Verhältnis zum Gemeinwohl verwirklichen bzw wenigstens anstreben können.
Solidarität Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gemeinschaft, das sich im Einstehen füreinander äußert – selbst da, wo es mir vielleicht persönliche Nachteile bringt.
Subsidiarität Die Aufgaben und Ziele werden nach Möglichkeit in den kleinstmöglichen Gruppen verfolgt. Dabei ist wichtig, dass sowohl die Entscheidungskompetenz als auch die Verantwortung auf dieser Ebene liegen. Übergeordnete Organisationsebenen übernehmen nur Aufgaben, die die kleinere Gruppe nicht übernehmen kann.
„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ Quadragesimo anno, 79.
Neue ergänzende Prinzipien
In neuerer Zeit wurden diesen alten Prinzipien vor allem auch in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Befreiungstheologie und des ökumenischen konziliaren Prozesses für “Glaube, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung” noch einige andere Prinzipien beigefügt, die man zwar auch auf die ersten Prinzipien zurückführen könnte, aber es nicht tun sollte, weil man so leichter mit anderen gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch kommen kann.
Nachhaltigkeit Für die Umsetzung der Wirtschafts- und Lebensabläufe nutze die Gemeinschaft nicht mehr Ressourcen als sich regenerieren können. Dieses Prinzip ließe sich zwar auch problemlos aus der Subsidiarität entwickeln, aber gerade in der heutigen Zeit mit einer beispiellosen Ressourcenverschwendung ist es wichtig die Nachhaltigkeit bei einer subsidiären Restrukturierung der Gesellschaft gleich von Anfang im Auge zu behalten.
Die Option für die Armen ist eine Präzisierung des Prinzips der Solidarität, die von der Bergpredigt her und den Erfahrungen der Befreiungstheologie her kommt. Sie nimmt gesellschaftliche Vorgänge aus der Perspektive der Armen in den Blick, als den schwächsten Gliedern des Sozialgefüges, die sonst keine Stimme haben.
Was die Päpste wohl nicht sehen konnten bei ihrer Lehre, die auf die soziale Frage gerichtet war, ist die Tatsache, dass sie hierin etwas auch über die neue Form der Kirche gelehrt haben, die eigentlich in der Bibel auch eine ursprüngliche Idee von Kirche ist. Diese Prinzipien gelten nämlich nicht nur für die Welt da draußen, sondern sind auch binnenkirchlich Konstitutiva, die ihre volle Sprengkraft für den Aufbruch der statischen Kirche und unserer Gesellschaft noch nicht in der vollen Breite entfalten konnten.
Die Krise der Soziallehre
Ein erstes Ergebnis der katholischen Lehre ist ja unsere soziale Marktwirtschaft, die nach dem Krieg unser Land in eine langen Zeit sozial ausgeglichenem Wohlstand geführt hat. Doch einerseits gerät unsere nationale, soziale Marktwirtschaft zunehmend unter Druck des globalisierten, neoliberalen Denkens, andererseits werden auch zunehmend in Kirche und Gesellschaft Prinzipien missachtet, die extrem wichtig sind für eine gute Balance der Gesellschaft. Besonders bei einem Prinzip wird man das Gefühl nicht los, dass es manche Beteiligte am liebsten aus der Welt geschafft sähen. Das Subsidiaritätsprinzip ist das Aschenputtel der Soziallehre. Aber warum mögen es die gesellschaftlich bestimmenden Kräfte eigentlich nicht? Darum soll es im nächsten Artikel gehen. Es soll außerdem auch darum gehen, dass ich der Ansicht bin, dass dieses Prinzip nicht irgend ein Prinzip ist, sondern eigentlich DAS Grundprinzip des gesellschaftlichen Umbaus schlechthin werden müsste.
Hat dies auf sozialefrage rebloggt und kommentierte:
Im Zusammenhang mit unserem zentralen Thema, der sozialen Frage, ist es auch notwendig, auf die katholische Soziallehre näher einzugehen. In diesem Blog wird näher auf die grundlegenden Prinzipien der katholischen Soziallehre eingegangen, die helfen sollen, das Gemeinwohl zu fördern.
By: sozialefrage on März 27, 2015
at 11:52