Verfasst von: adrian4xp | September 26, 2016

Das Eisen unter dem Kompass

Es gibt für den Niedergang der Volkskirchen natürlich viele äußere Gründe. Der Zerfall der Millieus, der gewaltige Umbruch, den die 68 Zeit mit sich brachte gerade im Verhältnis zu Autoritäten… all das wurde schon anderenorts zur Genüge betrachtet. Der Einfluss der Kirche auf diese Entwicklungen ist marginal und oft nicht immer glücklich gewesen. Die Glaubensverdunstung in Deutschland hat aber neben diesen äußeren Faktoren, einen wichtigen selbstgemachten und in seiner Dimension mE nicht richtig eingeschätzten Grund. Das Verhältnis von Anbetung und Theologie ist nicht nur verrutscht, es ist grundsätzlich aus den Fugen geraten. Und das nicht erst seit gestern. Es braucht eine Rückkehr zur biblischen Reihenfolge, die den Baum des Lebens in unsere Zeit von Gott her wieder wachsen lässt.

Heute wird mE zu Recht oft die Glaubensverdunstung im Gottesvolk als Hauptursache für die Krise der Kirche gesehen, die sich unter anderem äußert in der Problematik der fehlenden Berufungen. Immer weniger wird zuhause gebetet, noch seltener betet die Familie gemeinsam. Wo aber Christus nicht mehr als gegenüber erfahren wird, verkommt auch die Liturgie zum leeren Ritual. Und hier liegt mE die von der Kirche in Deutschland beeinflussbare und in seiner Wirkung wirklich falsch benutzte Stellschraube in dem ganzen Prozess. Die wirkliche innere Ursache der Verdunstung des Glaubens ist mE die Überbewertung der Theologie vor dem Gebet, und die Reduzierung des Glaubens auf das Glaubens- und Ritualwissen. Wo aber der Glaube schwach wird, wird sein Gegenteil stark, die Angst. Und diese regiert mittlerweile auf vielen Ebenen in der Kirche. Oder um das Problem biblisch zu formulieren: Es ist, als wäre in der deutschen Kirche der Text zwischen den letzten beiden Kommas in Mk 12,30 verschollen: 29 Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. 30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, … , mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. (Dtn 6,4; Dtn 10,12)

Vielleicht zwei Beispielfelder aus Vergangenheit und Gegenwart, wo sich diese Angst auswirkt.

Was sich bei der Ausbildung von Priestern und Pastoralassistenten – zumindest früher – sehr unterschied, war der Stellenwert der spirituellen Formung. Während Priesterkandidaten hier normalerweise eine gute oder wenigstens hinreichende Hinführung und Begleitung haben, lag das bei der Ausbildung von Pastoralassistenten oft eher im Ermessen der einzelnen Auszubildenden. Ich weiß nicht genau, ob dieser Mangel heute noch so existiert. Meines Erachtens lag das auch darin begründet, weil man von Seiten der Bistumsleitung nicht wirklich den Plan hatte, Kirche und vor allem ihre Leitung wirklich umzugestalten, sondern weil man im Gegenteil die Pastoralassistenten de facto als Zwischenlösung ansah, bis es halt wieder genügend Priesterberufungen geben würde. Wenn man aber die spirituelle Komponente in der Ausbildung vergisst und die Einzelnen sich das nicht selber nachträglich erkämpft haben (was löblicherweise viele Pastoralassistenten trotzdem gemacht haben), geschieht es nur zu leicht, dass man auf einmal Kirche mehr und mehr nur als Institution wahrnimmt und nicht mehr als Leib Christi. Da geschieht es auch von selbst mehr und mehr, dass man bei Strukturen aus der Welt Lösungen für kirchliche Fragestellungen sucht und sich mehr und mehr der Welt angleicht; denn es fehlt mittlerweile immer öfter der eigentliche Maßstab für das, was gut integrierbar ist und das, was eher überhaupt nicht passt, die persönliche Beziehung zu Jesus. Dieser Verweltlichung von Methoden auf der einen Seite steht aber manchmal eine spiritualisierte Ahnungslosigkeit der Entscheidungsträger aufgrund eines „immer weiter so“ auf der anderen Seite gegenüber mit entsprechend verheerenden Auswirkungen. Man sehe sich nur die oft katastrophalen Organisationsstrukturen an, die zu den finanziellen Beinahe-Crashs mancher Diözesen geführt hatten und die auch das Problem mit dem verschleiernden Umgang in Orden und Diözesen mit den Missbrauchsfällen überhaupt erst ermöglicht haben. (Ich lasse die anderen wichtigen Aspekt hier außen vor, weil die anderenorts schon genügend erhellt worden sind.)

Ein zweites Beispielfeld sind die jetzigen Umstrukturierungen der Diözesen. Ich weiß jetzt nicht, ob das überall so katastrophal anlief, wie hier in Berlin. Da wurde von einem geistlichen Prozess der Schaffung neuer Strukturen geredet – und in der Tat muss sich hier was tun. Aber wie macht man so was gleich von Anfang an kaputt bzw bestenfalls zu einer Strukturreform mit religiösem Anstrich? Richtig, indem man am Anfang schon weiß, was hinten rauskommen soll. Im Berliner Fall 30 Pfarreien. Ich unterstelle mal, weil man auf die Zahl der dann noch zur Verfügung stehenden Pfarrer geschaut hat.

Auch hier ist es wieder die Angst, die das eigentliche Problem darstellt. Wenn ich wirklich einen geistlichen Prozess will – und den bräuchten wir dringend – dann müsste man doch offen genug sein mit Gebet und Hören auf Gott anzufangen, dann muss ich doch auch dem Heiligen Geist zutrauen, nicht nur in mir auf ein hörendes Herz zu treffen; Hören meint, das Wahrnehmen des dreifachen Wortes Gottes in der Schrift, im Gebet und in der Lebenswelt der Menschen unserer Kirche. Da kann niemand am Anfang schon wissen, wohin Gott lenken will, weder im Amt, noch im Volk und schon gar nicht im ZdK. Aber jetzt wird wieder etwas rauskommen, wozu man das Kirchenrecht nicht ändern muss – aus Angst davor, was Rom oder auch die anderen sagen könnten. Was wird also in Berlin das Ergebnis sein? 30 Pfarreien, wo auch wieder der Pfarrer in allem das letzte Wort hat, genau wie das Kirchenrecht es vorsieht – ohne Rücksicht darauf, dass damals als dieses Kirchenrecht kodifiziert wurde eine Pfarrei und ihre Mitarbeiter von der Komplexität, Größe und Zusammensetzung etwas anderes war als heute. Der CIC gehört aber nicht zum Kanon der Heiligen Schrift, sondern hat eine Dienstfunktion.

Aber hier wirkt sich dann die Angst der Leitung auf die Berufung des Einzelnen aus. Wenn ich als junger Mann heute eine Berufung zum Priestertum in einer Diözese verspürte, überlegte ich es mir wahrscheinlich trotzdem dreimal, dem auch so nachzukommen oder wiche auf einen Orden aus, auch ohne wirklich dazu berufen zu sein. Denn ich bin heute als Priester nicht mehr zuerst als Seelsorger gefragt; Ich werde zB in Berlin in zwanzig Jahren eine von dreißig Pfarrei leiten müssen, die katholikenmäßig (Berlin Stadt) oder flächenmäßig (Umgebung) manchmal so groß oder größer ist als das Bistum Görlitz.

Ich habe in meiner Jugend Gott sei Dank noch Priester erlebt, die Zeit hatten für die Seelsorge. Ein Pfarrer war in unserer Gemeinde nur für 5000 Gläubige zuständig und hatte auch noch zwei Kapläne und eine Seelsorgehelferin. Aber auch damals mussten sie schon ziemlich rumgurken, um alle Außenstellen zu besuchen. Es gab aber auch schon damals Lösungsansätze dafür, die jetzt vor kurzem wieder verboten worden sind, obwohl man die Leute in der Diaspora genau für diese Situation ausgebildet hatte (Wort-Gottes-Feiern mit Kommunionausteilung) und es auch jahrzehntelang praktiziert worden war. Mit Pfarreigrößen von angepeilten 50.000 Gläubigen wird das zunehmend ein Problem, zumal der Pfarrer ja hier auch oft Arbeitgeber ist, und das ist kein konstitutiver Teil der Priesterausbildung.

Wie aber soll es weitergehen? Was wäre ein gangbarer Weg für die Erneuerung und Umkehr der Kirche?

Ich möchte mit einem Bild beginnen. In früheren Zeiten navigierten die Kapitäne ihre Schiffe mit Hilfe eines Kompasses und eines Sextanten über die Meere. In der Nähe des Kompass durfte nichts aus Eisen rumliegen, um das Magnetfeld nicht zu manipulieren und damit die Richtung, die das Navigationsinstrument anzeigte. In alten Filmen kommt dann aber manchmal ein altböser Feind und legt eine Axt unter den Kompass. Sein Ziel ist es, den Kapitän zu verwirren und ihn richtig auf den falschen Weg zu führen, damit das Schiff an Felsen zerschelle, die auf einmal auftauchen, wo es keine geben dürfte.

Kommen wir nochmal auf die Bibel zurück. Welche Reihenfolge gibt sie uns?
Markus 12,30 Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben
mit ganzem Herzen und
ganzer Seele, mit
all deinen Gedanken und
all deiner Kraft.
31 Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Diese Reihenfolge ist nicht beliebig. Doch wenn man auf die Situation in unserer Kirche schaut, sieht man dass wir die Reihenfolge in der Kirche umgedreht haben. „All deine Kraft“ und Vers 31 ist in Form unserer Caritas, aber auch in Gestalt der vielen Dienste am Nächsten in unseren Gemeinden und Orden Platz Nummer eins. Das betrifft mehr oder minder das Selbstverständnis als auch die Außenwahrnehmung der Kirche. „Es ist doch egal, ob die Menschen an Jesus glauben. Hauptsache sie sind nett zueinander.“ lautet eine oft gehörter, aber illusorischer Ausspruch.

Nummer zwei nimmt ein unsere ganze Lehre. Die Theologie lernen und lehren hat ein hohes Prestige in der Kirche und gerade auch der letzte Papst, der Gelehrte auf dem Stuhl des Fischers, hatte ja diesen Aspekt und auch die Schönheit der Lehre immer wieder auf den Schild gehoben. Und in der Tat, gute Lehre muss man heute oft suchen. In der Vergangenheit war auch eine Dissenz zwischen der Lehramt und Rom gesehen worden. Deutschsprachige Moraltheologen haben sich zB oft besser nicht so aus dem Fenster gehängt, aus Angst von Rom einen Rüffel zu kassieren; denn was man zu sagen hätte, wäre oft im Widerstreit mit den Lehren gewesen, wie sie die Kirche seit Jahrhunderten predigt. Es würde nicht mehr zur Lebenswelt der Menschen heute passen. In der Tat klafft zwischen Lebenspraxis der Gläubigen und offizieller kirchlicher Lehre ein Abgrund – und das nicht nur in Deutschland.

Nummer drei wäre, wie wir unser Menschsein immer mehr durchdringen lassen von der Gottesliebe. Und spätestens hier merkt man, wie es knirscht, wenn man diese Reihenfolge praktiziert. Das Doppelgebot kann man eben nicht von hinten aufzäumen; denn ich muss ja irgendworan festmachen, was das ist, wodurch ich mich umgestalten lasse. Und das darf keine Kopfgeburt sein!

Die Nummer vier verdunstet – außer im verbalen oft Anbetung und Liturgie überhaupt als Orte gemeinsamer und persönlicher Christusbegegnung. Dazu eine Erfahrung, die mir mal die Augen geöffnet hat. In einer nichtgenannten Pfarrei, in der auch die Messe „Mittel- und Höhepunkt des kirchlichen Lebens“ ist, war wieder einmal Firmung. Der Kardinal bekleidete sich mit dem Messgewand und sagte: „Schaun sie sich das mal an. Das ist nicht würdig.“ Damit meinte er das Brustkreuz, dass sich so langsam vom Gewand abzulösen begann. Der neue Pfarrer nahm sich dieses zum Anlass im PGR mal einen Kassensturz zu machen und zu fragen: wohin fließen unsere Finanzen in der Pfarrei? Es stellte sich heraus, dass in den letzten Jahren in die liturgischen Geräte und alles, was man so für den Gottesdienst braucht, kaum Geld geflossen war außer für Hostien und für Wein. Die „Finanzströme“ flossen in die Hilfe für Bedürftige und in Struktur der Gemeinde (auch alles wichtig). Aber das Herz verdorrt, wenn wir unsere Wurzel so vernachlässigen. Als der Pfarrer dann aus Extra dafür gewonnenen Spenden schöne neue Gewänder kaufte, regten sich gleich wieder die üblichen Stimmen, und diese kommen meist nicht die von außerhalb: Hätte man das Geld nicht den Armen geben können? (Joh 12,5f)

Wie also könnte die richtig Reihenfolge funktionieren?

Das Erste ist wohl, Gebet wieder als vertrauten Umgang mit Gott zu entdecken und zu lieben. Das ist eine Aufgabe für jeden aus der Kirche. Womit fängt man an? Mit einem kurzen Text vor einer langen Sitzung? Oder nicht besser mit einer guten Gebetszeit, wo jeder einzelne sich danach ausstreckt, dem Herrn zu begegnen, der an vor Tür meines Herzens steht und dessen Klopfen im Trubel meines Alltags zu oft untergegangen sind. Ja, wie haben aber immer zu wenig Zeit für lange Gebete! Das genau ist das Problem. Wenn wir dafür nicht die Zeit haben, setzen wir uns umsonst zusammen.

Als Zweites muss ich mit Jesus im Gebet prüfen, ob Christus bisher wirklich in alle Bereiche meines Alltags eintreten durfte, um dort Herr zu sein. Oder gibt es Bereiche, wo Er nichts zu sagen hat? Wie halte ich es mit meiner Familie, der Erziehung? Wie gestalte ich Freizeit, mein Finanzgebahren? Wie wirkt sich mein Glaube auf meine Sexualität aus? Wie sehr strahlt diese Liebe Christi durch mich? Wenn ich einen guten Film gesehen habe, rede ich doch auch mit den Leuten darüber. Wie ist es mit meinem Glauben, tue ich das da auch? Oder bin ich im Herzen Christus eigentlich noch nicht begegnet und kann deshalb niemanden einladen in die Versammlung der von Gott Geheiligten?

Als Drittes erst kommt dann die Theologie, ja mein Denken und Reflektieren über Gott und meinen Alltag mit Ihm, wie das alles mit meiner Umwelt zusammenhängt oder geändert werden muss. Es heißt, Origenes ließ nur im täglichen Glauben Gefestigte zur Theologie zu; denn das was ich mitbringe wird tiefer. Glaube ich, wird die Theologie meinen Glauben vertiefen; zweifle ich, wird der Zweifel wachsen; und bin ich religiös unmusikalisch, wird sich das durch die Theologie verfestigen.

Das Vierte kann man vielleicht mit einer Frage verdeutlichen: Welche Bedeutung hat für mich der geistliche und materielle Zehnte? Setze ich mich nach dem Maß meiner Möglichkeit ein für das Wachstum des Leibes Christi? Der Zehnte ist eine gute Richtschur, wieviel ich persönlich über den Rahmen meiner Familie hinaus in die Kirche investieren sollte. Also: Haben die Armen da einen Platz in meinem Herzen? Die Armen sind jetzt auf der ganzen Linie gemeint, also nicht nur die materiell armen und Flüchtlinge. Es geht auch um die, die Gott noch nicht kennen. Die Kinder und Jugendlichen, die eine Heimat, Werte und Ermutigung brauchen. Fördere ich andere uneigenützig, um im Reich Christi besser ausgerüstet zu sein? Oder hat mir der Herr die Alten ans Herz gelegt? … ja, ab hier kommt die Caritas ins Spiel persönlich und institutionell. Die Kirchensteuer in Deutschland ist sicher eine gerechte Idee zur Finanzierung der Kirche und dem Unterhalt unserer Institutionen. Sie darf aber nicht zu einem bequemen Ruhepolster werden auf dem der Leib Christi durch EntGEISTerung zu einer bloßen Institution verkommt, wo das wichtigste nicht mehr in der Mitte ist: Trauen, Hoffnung und Liebe.

Ein Baum muss aus der Wurzel und durch das Licht stark werden. Wenn ich nur Früchte und Blätter im Blick habe, und die Wurzel langfristig verderben lasse, muss ich mich nicht wundern, wenn er bald keine Früchte mehr trägt. Es wird Zeit, das Eisen des altbösen Feindes aus dem Kompass der Kirche zu entfernen und nach der Zeit des Auseinanderdriftens von Glaube und Theologie, wieder zu seiner Synthese zu kommen. Die heilige Gertrud von Helfta vergleicht (etwas von mir erweiterter Vergleich) das Verhältnis von Glaube und Theologie mit dem Verhältnis eines blühenden Gartens zu einem Herbarium. Eine getrocknete und gepresste Rose auf der Seite eines Bücherblattes in einer Bibliothek mag ihren Sinn haben, aber so eine Rose im Garten zu bestaunen und sich an ihr zu erfreuen, sollte dadurch nicht überflüssig werden, wie es heute noch zu oft geschieht. Gottes Garten steht uns von Seiner Seite her in Jesus immer offen. Er wird uns aber nicht in Seinen Garten zwingen. Entweder gehen wir dorthin oder wir werden vergehen.

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Antworten

  1. Diese Umkehrung der Prioritäten sehe ich in „meiner“ Gemeinde auch sehr stark. Daneben gibt es dann einige, die den Teil mit der Nächstenliebe ganz und gar vergessen.
    Die beiden Fehlhaltungen ergänzen sich gar prächtig zu einem sehr destruktiven Element.


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